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We lost the plot: Aimee Lou Woods Zähne abzufeiern ist nicht so empowering, wie ihr denkt

Das Internet schwärmt für „The White Lotus“-Schauspielerin Aimee Lou Wood – und für ihre hervorstehenden Vorderzähne. Obwohl die meisten Reaktionen auf ihren „Schönheitsmakel“ positiv sind, sind sie nicht automatisch progressiv und gegen das vorherrschende Schönheitsideal. Vielmehr offenbaren sie unsere anhaltende Obsession mit Schönheit und Klasse was auch die Schauspielerin selbst „ein wenig traurig“ macht.

Wie so viele andere, habe ich in den vergangenen Wochen „The White Lotus“ verfolgt. Die dritte Staffel der Erfolgsserie hat in den Medien große Wellen geschlagen. Überraschenderweise dreht sich dort aber aktuell vieles nicht um die Handlung, sondern um die Zähne von Schauspielerin Aimee Lou Wood (Chelsea). Der „Sex Education“-Star hat einen Überbiss. Auch bei geschlossenem Mund ragen ihre Vorderzähne noch leicht aus ihrem Lächeln hervor.

„Harper’s Bazaar“ betitelt Woods Zähne als die „wahren Stars von ‚The White Lotus’“. Für eine Autorin der „Vanity Fair“ sind sie eine „Offenbarung“, während „The Telegraph“ schiefe Zähne als „Hollywoods neues Statussymbol“ betitelt. Und auch die deutschen Medien schwärmen. Im „Stern“ werden Woods ungleichen Beißer etwa pathetisch „die Erinnerung ans Menschsein-Dürfen“ genannt. Und während ich beim ersten Artikel noch enthusiastisch genickt habe, frage ich mich inzwischen bei jeder weiteren Schlagzeile um Aimee Lou Woods Gebiss: „Okay, ist es jetzt nicht langsam mal gut jetzt?“

Aimee Lou Wood fühlt sich „nur noch wie ein Paar Schneidezähne“

Ähnlich scheint es auch der Schauspielerin zu gehen. Wood empfindet die Aufmerksamkeit als Belastung. Nach dem Serienfinale bittet sie in gleich mehreren Interviews den nicht enden wollenden Gesprächen über ihre Zähne einen Punkt zu setzen. „Es ist so: cool, und jetzt würde ich gerne verdammt nochmal aufhören darüber zu reden“, zitiert die „Sunday Times“ die 31-Jährige. „Kann ich über meine Rolle sprechen? Warum rede ich über meine Beißer?“ Mittlerweile fühle sie sich nur noch wie „ein Paar Schneidezähne“.

Meine Zähne sind ebenfalls weit vom perfekten Colgate-Lächeln entfernt. Als Teenager wird mir mehrfach eine Zahnspange ans Herz gelegt. In der Hoffnung, dass sich das alles von alleine wieder gerade schiebet, lehne ich jedes Mal ab. Meine untere Zahnreihe ist bis heute unverändert ein ziemliches Verhau, wie man in Bayern sagt. Darin stehen die meisten Zähne weiter vorne oder hinten als die jeweils nächstgelegenen. Über viele Jahre sind meine Zähne Auslöser für Unsicherheiten.

Den Wunsch nach dem idealen Hollywood-Lächeln kann ich also selbst gut nachvollziehen und ich verstehe, warum Aimee Lou Woods (für Hollywood!) ungewöhnliche Zähne für viele eine Inspiration sind. Aber ich fühle auch Woods‘ Frust. Ich habe in den vergangenen Wochen oft ähnliche Gedanken wie sie.

Immer wieder wird die talentierte Schauspielerin auf ihre Zahnfehlstellung reduziert. Ich finde: Die ganzen lobhudelnden Artikel über ihre besonderen Zähne sind nicht so progressiv, wie sie sich gerne halten. Tatsächlich sind sie stattdessen oft herablassend und unrealistisch. Das hat gleich mehrere Gründe.

Wie „rebellisch“ sind unkonventionelle Zähne wirklich?

Natürlichkeit in großen Produktionen wie „The White Lotus“ zu sehen, ist erfrischend und erstrebenswert. Das streite ich gar nicht ab. Wood kommentiert das zu Beginn der Staffel im Gespräch mit „The Hollywood Reporter“ noch so: „Selbst die Art und Weise, wie [die Fans der Serie] über mich und meine Zähne sprechen – dass ich keine Veneers oder Botox habe – es fühlt sich ein bisschen rebellisch an.“ Ähnliche Aussagen treffen „Fans der Serie“White Lotus“-Fans auch über Charlotte Le Bon, die Chloe verkörpert und bei genauem Hinsehen eine schiefe Zahnstellung hat.

Doch stelle ich mir die Frage: Wie rebellisch sind schiefe oder große Zähne wirklich? Können wir wirklich von einem großen Fortschritt im westlichen Schönheitsideal hin zur Natürlichkeit sprechen, wenn wir die Makel von Frauen feiern, die sonst in jeder Hinsicht eben jenem Ideal entsprechen? Sind deren auffälligen Zähne wirklich „empowering“, wenn sie sonst dünn, weiß, able-bodied und hübsch sind? Oder handelt es sich bei ihren unvollkommenen Lächeln um ein Privileg, das vielen „Normalos“ gar nicht zusteht? Oft zelebrieren wir die kleinen Besonderheiten sonst optisch perfekter Menschen wie Aimee Lou Wood oder Charlotte Le Bon. Würden wir dies auch bei denjenigen tun, die wir nicht attraktiv empfinden?

Die ernüchternde Antwort lautet: Eher nein. Studien1 haben ergeben, dass ein gepflegtes Zahnbild Einfluss auf Sozialleben und Karriere hat. Wer ein unkonventionelles oder „beschädigtes“ Lächeln besitzt, wird in Jobinterviews als weniger kompetent und intelligent eingeschätzt als Menschen mit einem perfekten Hollywoodlächeln. Und auf den gängigen Dating-Apps haben Menschen mit gepflegten Zähnen eine 58 Prozent höhere Chance auf einen Swipe nach rechts als die mit makelhaften. Schöne Zähne sind also bewiesenermaßen ein Schlüssel zum Erfolg.

Das gilt auch weiterhin für die Filmindustrie – trotz Gegenbeispielen wie Wood und Le Bon. Judy Counihan ist leitende Produzentin für Film und Fernsehen. Im Gespräch mit „The Telegraph“ sagt sie, dass sich trotz der Bewegung zu mehr Natürlichkeit nicht alle Schauspieler:innen leisten können, ungewöhnliche Zähne zu haben: „[Dann] musst du entweder ein großartiger Schauspieler und/oder hübsch sein. […] In einer hart umkämpften Branche wie dieser können sehr ablenkende Zähne der Grund dafür sein, eine Rolle nicht zu bekommen.“

Schlechte Zähne und soziale Herkunft

Wenn Zähne also unsere Karrierechancen beeinflussen, dann gilt das auch für unseren sozialen Stand. Ein gut bezahlter Job könnte mir von einer Person mit besseren und perfekteren Zähnen weggenommen werden. Daraus kann ein gefährlicher Teufelskreis entstehen: Denn schlechte Zähne gelten oft als Erkennungsmerkmal für niedrigere soziale Schichten. Wer schon einmal eine Zahnarztrechnung erhalten hat, die die Krankenkasse nicht deckt, weiß: Zahngesundheit und -ästhetik können eine teure Angelegenheit sein. Menschen mit niedrigem Einkommen haben daher öfter Zahnfehlstellungen, Verfärbungen oder Lücken.

Wer es sich leisten kann, kann sich heute so einfach wie noch nie gerade weiße Zähne kaufen. Doch denen, die das nicht können, können Chancen zum sozialen Aufstieg verwehrt bleiben. Unsere Zähne sind unser soziales Kapital. Schon in unserer Kindheit ist es das erste Schönheitsideal, dem wir uns etwa mit Zahnspangen beugen.

Es ist sicher kein Zufall, dass ausgerechnet die Figuren von Aimee Lou Woods und Charlotte Le Bons in der sozialkritischen Serie „The White Lotus“ kein perfektes Gebiss haben im Vergleich zu den anderen Luxusressort-Gästen. Ihre Zähne sind Symbol ihres sozialen Stands: Ihren Lebensstandard im Luxushotel scheinen ihre reichen Partner zu finanzieren. Das betont schon die erste Szene zwischen den beiden Frauen. Chloe begrüßt Chelsea mit den Worten: „Ich liebe deine Zähne! Du bist aus England, oder?“

In „shiny bright America“ gelten schiefe, lückenhafte oder verfärbte Zähne oft als „British teeth“. Auch hier trifft Zahnästhetik auf tiefverwobene klassistische Vorurteile und Stereotypen. Bis heute gelten Briten in Amerika offensichtlich als nachlässiger in der Körperpflege – was sich angeblich auch ihren deren Zahnhygiene widerspiegelt. Was tatsächlich stimmt: Während in Amerika immer mehr Menschen Veneers tragen, sind in Europa und gerade Großbritannien „unperfekte“ Zähne noch wesentlich gängiger.

Aimee Lou Wood hat für „The White Lotus“ übrigens einmal mit einem amerikanischen und einmal mit ihren eigenen britischen Akzent vorgesprochen. Sie denkt, dass sie aufgrund ihrer Zähne letztlich eine Britin gespielt hat. Im Interview mit „On Demand Entertainment“ erklärt sie: „Ich finde einfach, dass ich nicht besonders amerikanisch aussehe. Es sind die Zähne. Keine Amerikanerin hat meine Zähne.“ Um glaubhaft eine US-Bürgerin darzustellen, müsse sie sich wahrscheinlich Veneers zulegen, scherzt sie weiter.

Wir feiern keine unkonventionellen Zähne – wir feiern die Abwesenheit von Veneers

Dabei scheint mir, dass gerade die wachsende Beliebtheit von Veneers ein Grund dafür sind, dass so viele Menschen Woods hervorstehende Schneidezähne so feiern. Seit einigen Monaten sehe ich auf TikTok immer häufiger virale Videos mit „Vorher/Nachher“-Fotos von Stars, die statt ihrer eigenen Zähne mittlerweile Veneers tragen. In einigen besonders auffälligen Fällen wie etwa bei „The Hunger Games“-Schauspieler Sam Claflin oder Taylor Swift haben die neuen Zähne sogar für Negativschlagzeilen gesorgt.

Die übereinstimmende Meinung in den sozialen Medien: Nahezu jeder Veneer-Träger hat mit den eigenen Zähnen besser ausgesehen als mit makellosem Fake-Gebiss. Gerade die Zahngestelle, die zu perfekt, zu gerade und zu weiß sind, wirken auf die meisten Menschen unnatürlich und manchmal sogar unheimlich. Amerikaner nennen das den „uncanny valley“-Effekt. Der beschreibt normalerweise das beunruhigende Gefühl, wenn man sehr menschenhafte Roboter oder computergenerierte Charaktere sieht.

Tatsächlich wird in nahezu jedem der oben genannten Artikel, die über Aimee Lou Woods Zähne schwärmen, mehr über Veneers und deren Popularität geschrieben als über die Schauspielerin und ihr Lächeln selbst. Das bestätigt meinen Verdacht, dass hier nicht wirklich die Natürlichkeit einer einzelnen Person gefeiert wird. Vielmehr sind ihre Zähne im Kontrast zu den immer künstlicher wirkenden Veneers ein angenehmer, frischer Wind. Wir wenden uns von einem Beauty-Trend ab, der uns nicht mehr gefällt und schaffen damit einen neuen. Doch kommt damit wirklich die viel angepriesene Natürlichkeit zurück? Also ein Ideal, das leichter für jedermann zu erfüllen ist?

Warum Beauty-Trends exklusiv und unerreichbar sein müssen

Diese Bewegung in der Beauty-Industrie ist im 21. Jahrhundert immer wieder zu beobachten. Veneers gibt es zwar bereits seit den 1920er Jahren, aber haben erst in den vergangenen zwanzig Jahren einen großen Beliebtheitsschub erfahren. Anfangs noch ein teures Statussymbol der Reichen und Schönen Hollywoods, sind die künstlichen Zähne heute wesentlich erschwinglicher. Im deutschen Reality-TV sieht man besonders bei den Männern kaum noch Teilnehmer ohne grell leuchtende perfekte Zahnreihen.

Da sie besonders günstig in der Türkei eingesetzt werden, tragen diese oft extrem unnatürlich weißen Zähne spotthaft den Namen „Turkey Teeth“. Damit verlieren Veneers an Wert als Statussymbole für die oberen Zehntausend. Denn so werden sie zum Markenzeichen einer Schicht, von der man sich doch eigentlich (optisch) abgrenzen möchte. Diesen Wandel hat man zuvor schon bei aufgespritzten, prallen Lippen oder Haar-Extensions gesehen.

Ungewöhnliche Zahnstellungen wie die von Aimee Lou Wood und Charlotte Le Bon können zwar tatsächlich trendweisend sein. Allerdings zeigt sich auch hier, wie bei den meisten anderen kosmetischen Eingriffen, dass die Bewegung nicht mit authentischer Natürlichkeit einhergeht. Die Zahnärzte der Stars berichten, dass trotz gewollter Natürlichkeit nicht weniger ästhetische Eingriffe stattfinden. Vielmehr werden diese für den Laien weniger offensichtlich. Die Konsequenz: Noch unrealistischere Beautystandards, bei denen selbst „natürliche Schönheit“ künstlich erzeugt wird.

Aimee Lou Wood wird auf ein äußeres Merkmal reduziert – wie schon viele Frauen vor ihr

Trotz all der positiven Berichterstattung um Aimee Lou Woods Zähne stoße ich mich daran, dass wir seit mehreren Wochen eine begabte Schauspielerin auf ein einziges optisches Merkmal reduzieren. In jedem Interview, in dem sie eigentlich „The White Lotus“ und ihre Leistung anwerben möchte, wird Wood auf ihre Zähne angesprochen. Während ihre Schauspielkolleg:innen den Fokus ganz auf deren Rollen legen dürfen, muss sie immer wieder über ein Merkmal sprechen, für das sie als Kind gemobbt worden sei.

„Es ist immer noch, was mich definiert“, sagt sie der „Sunday Times“. Die Handlung der HBO-Serie scheint vollkommen in den Hintergrund gerückt zu sein. We lost the plot – im wahrsten Sinne des Wortes!

Das geht auch an der 31-Jährigen nicht spurlos vorbei. Die anhaltende Obsession mit ihren Zähne mache die Schauspielerin „ein wenig traurig“, gesteht sie im Interview mit „GQ“. Sie habe zunehmend das Gefühl, dass ihre Zähne „albern“ seien und etwas das „behoben“ werden müsse. Dem fügt sie hinzu:

„Und, ich muss es sagen: Ich weiß nicht, ob wir so viel darüber sprechen würden, wenn es um einen Mann gehen würde. Es geht weiterhin immer um das Aussehen von Frauen.“

Damit trifft Wood den Nagel auf den Kopf. In sozialen Medien und Presse werden prominente Frauen oft unfreiwillig zu Gallionsfiguren einer Gegenbewegung konventioneller Schönheitsideale – einfach nur aufgrund ihrer Existenz. Das beweisen auch kurvige Frauen wie Sängerin Lizzo, Schauspielerin Amy Schumer oder „Girls“-Hauptdarstellerin Lena Dunham. Sie haben sich öffentlich mehrfach dagegen geäußert, als „mutig“ dargestellt zu werden, wenn sie sich beispielsweise in Bikinis oder Unterwäsche präsentieren. Gleichzeitig haben alle drei Frauen gestanden, das Gefühl zu haben, dass die Gespräche über ihre Körper ihre Kunst überschatteten.

Diese Beispiele zeigen: Selbst vermeintlich progressive Diskurse über Schönheit wirken nur auf den ersten Blick inklusiv. Oft haben sie die gegenteilige Wirkung. Sie betonen das Schönheitsideal, das „eigentlich“ vorherrscht.

Aimee Lou Wood will als Schauspielerin gesehen werden, nicht als Symbol. Genau das sollten wir ihr sowie allen anderen Personen endlich zugestehen. Wir müssen aufhören, Menschen dafür zu feiern, menschliche Körper zu haben. Denn ein nicht perfekter Körper ist kein politisches Statement. Sondern einfach ein Körper.

Vielleicht bedeutet das auch, dass wir uns von der Body Positivity weg und hin zur Body Neutrality bewegen sollten. Statt Köper und deren Eigenheiten ständig zu kommentieren, selbst mit guten Absichten, sollten wir sie einfach sein lassen. Nicht jeder Zahn braucht zahlreiche Schlagzeilen. Nicht jede körperliche Eigenheit muss als „mutig“ oder „authentisch“ betitelt werden. Vielleicht steckt genau darin echte Diversität: Nicht im Feiern jeder Individualität, sondern darin sie alle einfach sein lassen zu dürfen.

  1. Kershaw, S., Newton, J. & Williams, D. The influence of tooth colour on the perceptions of personal characteristics among female dental patients: comparisons of unmodified, decayed and ‚whitened‘ teeth. Br Dent J 204, E9 (2008). https://doi.org/10.1038/bdj.2008.134
    Pithon MM, Nascimento CC, Barbosa GC, Coqueiro Rda S. Do dental esthetics have any influence on finding a job? Am J Orthod Dentofacial Orthop. 2014 Oct;146(4):423-9. doi: 10.1016/j.ajodo.2014.07.001. PMID: 25263144. ↩︎


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